Sehr strenge Traditionen und vor allem das Kastensystem stehen in Indien mancher Liebe im Weg. Dating-Apps fallen deshalb naturgemäß auf sehr fruchtbaren Boden. Viel Auswahl hat man ja sonst nicht.
Jetzt schickt sich eine Dating-App für Indien an, mit diesen Traditionen zu brechen. Flirtwillige nehmen per App Kontakt auf, ohne, dass der Druck der Familie auf ihnen lastet. Wer kein Smartphone hat, ist schnell raus aus dem Flirt-Geschäft.
Da ist wohl gerade eine sexuelle Revolution in Gange, die vielleicht noch mit den 68ern hierzulande vergleichbar wäre. Ganz nebenbei wird ein Jahrtausend altes Kastensystem durch eine simple Smartphone-App Schritt für Schritt demontiert.
India Love Story
Für Pankaj war es Liebe auf den ersten Blick. Er sah Nidhi aus seinem Bürofenster, wie sie in die benachbarte Schule ging. Über seine Schwester, die in die selbe Schule ging, ließ man seiner Holden Blumen und Schokolade überreichen. Schließlich hat Pankaj Nidhi dazu überredet, sich mit ihm zu treffen. Nach dem ersten Treffen hat man miteinander fast ausschließlich über Smartphone kommuniziert und sich ineinander über beide Ohren verliebt.
Pankaj und Nidhi gehören verschiedenen Kasten an, er gehört der niedrigsten Kaste Kurma an, sie der höchsten Kaste der Rajputen. Ein Kennenlernen auf herkömmlichem Wege wäre undenkbar gewesen und hätte zu Feindschaften unter den Familien geführt. Deshalb vermieden beide Treffen und verbrachten viele Stunden mit Korrespondenz über Smartphone. Dennoch blieb die junge Liebe nicht unentdeckt, als der Bruder von Nidhi die Korrespondenz entdeckte.
In einem Wutanfall drohte er den Geliebten Pankaj zu töten. Das Paar beschloss darauf seine Flucht zu planen. Sie fanden Zuflucht bei "Love Commandos", einer Organisation, die sich mit genau diesen Themen befasst und die sie bei einer schnellen Trauung unterstützten. Eine von vielen Tausend Geschichten, wie sie sich in Indien immer wieder zutragen.
"Ohne Smartphones würden die meisten Singles die Liebe gar nicht erst finden. Sie empfinden das Smartphone gewissermaßen als Geschenk Gottes", so Sicher Sanjoy Sachdev, der Gründer der Love Commandos. Ihm zufolge hätten die Ältestenräte einiger Kasten das Smartphone für Frauen verboten.
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Online-Dating-Markt in Indien
Es wird prognostiziert, dass Indien bis zum Jahre 2020 das jüngsten Land sein wird, wenn man sich die Bevölkerungsstruktur betrachtet. Heute sind mehr als die Hälfte der Inder unter 25 und 65% unter 35 Jahren. Auch zählt Indien zu den Ländern, in denen der Smartphonemarkt am schnellsten wächst. Alleine diese Zahlen machen den Online-Dating-Markt zu einem sehr profitablen Markt.
Tinder & Co.
Die Dating-App Tinder kam 2013 auf den indischen Markt. Innerhalb von nur zwei Jahren wurden in Dehli und Mumbai Rekordzahlen an neuen Nutzern erzielt. Jeden Tag wächst da die Nutzerzahl um ein Prozent, 10.000 "Matches" (wenn beide Parteien nach rechts gewischt haben) sollen täglich generiert werden. Darüber hinaus bestehen diverse regionale Dating-Apps nach Vorbild von Tinder in Indien. Sehr beliebt ist die Dating-App "Truly Madly", die jeden Tag um die 15.000 "Matches" erzeugt.
Truly Madly
Die Zentrale von Truly Madly befindet sich am staubigen Stadtrand von Dehli. Schaut man jedoch in die Räumlichkeiten, konnte der Eindruck entstehen, man sei in einem hippen Bürokomplex mitten in San Francisco.
Junge Männer und Frauen arbeiten an Steharbeitsplätzen oder unterhalten sich entspannt, halbliegend in den Sitzsäcken und alles ist sehr modern. Truly Madley konnte innerhalb von nur zwei Jahren nach Markteintritt eine Finanzierung von fünf Millionen US-Dollar erzielen und verfügt über derzeit mehr als zwei Millionen Nutzer.
Die 22-jährige Arshad stammt aus einer kleinen Stadt in Nordindien und ist dem Marketing-Team von Truly Madly beigetreten. "Meine Familie ist sehr konservativ. Ich wollte aus der Rolle ausbrechen und etwas anderes tun", sagt Arshad der Schriftstellerin Ira Trivendi.
Über ihren neuen Job sagt sie, dass ihre Eltern dafür kein Verständnis gehabt hätten, wenn Sie wüssten was sie genau machen würde. Familie von Arshad, sowie die Familien von vielen anderen indischen Frauen, wollen nur eins - dass ihre Tochter endlich zur Ruhe kommt und heiratet.
"Für mich ich es wichtig jemanden zu heiraten, den man liebt, unabhängig von Glauben oder Kasten. Für mich ist die Person wichtig und nicht die Religion", so die 22-jährige.
Etwa die Hälfte der 40 Mitarbeiter von Truly Madly sind Frauen unter 30 Jahren. Sie zogen von kleinen Städten nach Delhi. Alle auf der Suche nach ihrem Glück.
Truly Madly
"Befreite Frauen des Ostens"
Etwa die Hälfte der 40 Mitarbeiter von Truly Madly sind Frauen, die meisten von ihnen unter 30 Jahre alt. Sie zogen aus kleinen Städten nach Delhi, immer auf der Suche nach dem persönlichen Glück. Viele, darunter auch Arshad, treffen sich aus der freien Entscheidung heraus mit anderen Menschen.
Überall im dicht bevölkerten Indien - vor allem in den großen Städten - gibt es immer mehr solcher "befreiter Frauen des Ostens".
Vedhika ist eine von ihnen. Die unverheiratete 26-jährige aus Dehli absolvierte vor kurzem an einer renommierten Universität und bekam einen Job in einem multinationalen Konzern. Vor ein paar Monaten wurde sie zu einer aktiven Tinder-Nutzerin.
Seitdem hat sich ihr Leben grundlegend verändert. "Ich hatte zwei Abenteuer auf Tinder, - teilt Vedhika ihre Eindrücke. Wie toll ist es, dass wir uns nicht gleich so verhalten müssen, als ob wir heiraten wollten. Twitter ist keine traditionelle indische Hochzeits-Website, wo Menschen ihre Geburtshoroskope vergleichen. Und das befreit wirklich! Und für indische Frauen ist es ein Novum.
Dating-App als Befreiung von traditionellen Riten
Millionen von Indern erleben die Dating-App als Befreiung von traditionellen Riten, die in ihren Augen als überholt gelten und als Einschränkung empfunden werden. Insbesondere in den großen Städten werden die Apps sehr gerne angenommen. Für die indischen Frauen ist es ein Novum völlig frei in der Partnerwahl zu sein. Zuvor war auch vorehelicher Sex verpönt und konnte schwerwiegende Folgen haben. Das scheint sich durch die Apps zu wandeln.
Indisches Kastensystem
Die traditionelle indische Gesellschaft ist in vier Varna (Kasten) unterteilt: Bramahnen (Priester), Kshatriyas (Krieger), Vaishyas (Händler) und Sudras (Diener und Handwerker), jede davon ist auch in weitere Unterkasten aufgeteilt. Eine andere Kaste sind die Unberührbaren, die sich aus den vier Kasten herausheben und den niedrigsten Rang in der sozialen Hierarchie einnehmen. Insgesamt schätzt man die Kastenanzahl auf rund 3000.
90 bis 95 Prozent der Ehen in Indien werden innerhalb der Kasten eingegangen, auch wenn das Gesetz seit Jahr 1954 das nicht mehr verlangt. Jedes Jahr werden rund 1000 Ehrenmorde begangen, die ursächlich mit Ehen in Verbindungen stehen, die oftmals außerhalb der Kasten geschlossen wurden.
Ein Fall, der Schlagzeilen machte
Im März 2012 fand die Polizei im östlichen Bundesstaat Bihar den zerlegten Körper eines Teenagers. Darauffolgend kam es zu zwei Festnahmen aus dem Nachbardorf. Wie sich herausstellt war der Ermordete eine Dating-Bekanntschaft der Tochter und aus einer anderen Kaste.
Bei der Vernehmung sagte der Vater, dass er "keine andere Wahl hatte", den Jungen aus einer anderen Kaste zu töten, der sich in seine 17-jährige Tochter verliebt hatte. Die Tochter hatte mit dem jungen Mann Kontakt über eine Dating-App aufgenommen. "Trotz wiederholter Warnungen, ging sie mit ihm aus. Als Vater habe ich das Richtige getan. An meiner Stelle würde man die gleiche Sache tun",- so der Täter.
Dennoch nehmen nicht alle Geschichten so ein tragisches Ende. Junge Menschen finden über Tinder, Truly Madly oder Woo auch in Indien zueinander.
Online-Liebe auch nach Kasten
Die Erinnerung an das Kastensystem kann man allerdings auch in Internetforen finden. "Gibt es irgendwelche indische Dating-Websites, wo man nach Kasten suchten kann?" – interessiert sich jemand auf den Forum Quora. "Es gibt keine solche Websites, doch es besteht eine gute Lösung. Frag deine Mutter oder andere Verwandten, sie werden mit viel Freude ein Mädchen aus deiner Kaste für dich finden".
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Indien: wahre Liebe vs. Zwangsheirat
Dating und romantische Liebe im europäischen Sinne ist in Indien noch nicht angekommen. Es gibt die religiösen Fanatiker, mit denen es regelmäßig Auseinandersetzungen am Valentinstagen gibt und auch die Eheanbahnung verläuft im ländlichen Raum immer noch wie vor hunderten von Jahren.
Das Thema, dass eine Tochter gegen ihren Willen verheiratet werden soll, ist immer noch der Stoff, aus dem die Bollywood-Filme entstehen. Man geht davon aus, dass in Indien 31 Prozent der Ehen aus rein romantischen Gründen entstehen und rund 69 Prozent der Ehen eher einen pragmatischen und familiären Hintergrund aufweisen. In den nördlichen Regionen Indiens liegt die Rate bei 90 Prozent. Etwa die Hälfte aller indischen Mädchen werden noch vor dem Erreichen des 18. Lebensjahres verheiratet.
Bei der Wahl des Lebenspartners war es schon immer so, dass die kleinsten Details eine Rolle gespielt haben, wie beispielsweise die Numerologie oder das Horoskop. Nach den strengen Sitten, durften sich das Paar vor der Hochzeit nur am Vorabend der Feierlichkeiten für 15 Minuten allein sehen. Erfolglose Ehen werden in Indien immer noch als Schande für die ganze Familie angesehen. Die Scheidungsrate liegt unter zwei Prozent, jedoch steigt sie in den Städten an.
Zu Beginn der Unabhängigkeit Indiens ist man davon ausgegangen, dass die allgemeine Bildung und Volkskultur die patriarchalischen Traditionen zerstören würden, das ist aber nicht eingetreten. Jetzt, 70 Jahre später, schicken sich Dating-Apps an mit diesen Traditionen zu brechen.
"Ich traf eine Menge intelligenter Frauen, die zwangsverheiratet wurden und seit jeher in diesen Ehen sind. Ich wollte den Frauen wieder die Möglichkeit geben, mehr über diese Dinge zu entscheiden und Gelegenheit geben sich den Partner selber zu wählen. Eigentlich bin ich ein Feminist", so Sachin Bhatia, der CEO des Startups Truly Madly.
Neue Technologien haben das Verhalten und die konservative Gesellschaft maßgeblich verändert. Die Eltern der Mädchen erstellen Heiratsanzeigen auf beliebten Heiratswebsites im Internet.
Auch haben Familien teilweise auf die Dienstleistungen von Privatdetektiven zurückgegriffen, um mehr Informationen über potenzielle Ehepartner herauszufinden. Nicht selten werden Dating-Seiten direkt von Brüdern oder Eltern kontrolliert. Mit Aufkommen der Smartphones ist die Kontrolle jedoch sehr viel schwieriger geworden.
Sicherheitsvorkehrungen in den Dating-Apps & Women first
Jyoti Singh Pandey aus Delhi fuhr eines Abends nach einem Kinobesuch mit dem Bus mit ihrem Freund nach Hause. Sie wurden im Bus von fünf Männern mit Eisenstangen umzingelt und nach schweren Schlägen wurde die Frau eine Stunde lang vergewaltigt. Der Busfahrer war auch an der Tat beteiligt.
Ein paar Tage später erlitt die Frau ihren schweren inneren Verletzungen. Im Jahr 2012 schockierte diese Geschichte das ganze Land und löste massive Straßendemos aus. Bei den nächsten Parlamentswahlen wurde der Indian National Congress abgelöst, der in den vergangenen 10 Jahren regiert hat, weil er das Problem nicht mehr in den Griff bekommen hat.
Alle 22 Minuten findet in Indien ein Akt sexueller Gewalt statt. Eines der neuesten Fälle, die die Öffentlichkeit schockierten, war die Vergewaltigung einer 70-jährigen Nonne. Leider werden Dating-Apps zunehmend auch zu einer Plattform für die gezielte Suche nach Opfern.
Die benutzerdefinierten Rechte und der Datenschutz in der Dating-App sind für Frauen meistens sehr viel umfangreicher, sprich sie haben mehr Möglichkeiten Bestandteile ihres Profils und der Daten zu verbergen, als das bei den Männern der Fall ist.
Neben den obligatorischen Angaben und Freigabe anderer Profile in sozialen Netzwerken, müssen Männer auf Truly Madly auch ihre Telefonnummern und Passdaten angeben. Anwendungsentwickler haben zusammen mit Psychologen einen speziellen Algorithmus entwickelt, der unerwünschte Kommunikation von vorneherein ausfiltert.
Die App "Thrill" filtert es sogar so, dass 35 Prozent der männlichen Benutzer nicht auf Profile gelangen können und von vorneherein draußen bleiben.
Männer können auch Opfer werden
Im Jahr 2008 entschied das Gericht von Delhi, dass die Fälle, bei denen Männer die Ehe versprochen hatten, aber mit den Frauen nur Sex haben wollten, faktisch als Vergewaltigung gelten.
Oft locken indische Männer naive Mädchen mit einem Heiratsversprechen ins Bett. Das läuft dann über Dating Apps. Es gibt aber auch Fälle, in denen Frauen die Männer erpressen. Einige Quellen gehen davon aus, dass rund die Hälfte aller Vergewaltigungsvorwürfe diesen Hintergrund aufweisen. Frei nach dem Motto: "Heirate mich oder ich zeige Dich wegen Vergewaltigung an!"
Die Online-Dating Apps in Indien haben einen enormen Wachstumsmarkt vor sich
Die Zukunft der Dating-Apps in Indien
Einer aktuellen Volkszählung zufolge, ist in den Jahren zwischen 2001 bis 2011 die Zahl der unverheirateten Frauen um 68 Prozent gestiegen. Immer weniger Mädchen sind bereit, sich ihrem Schicksal und der Zwangsverheiratung einfach hinzugeben, oder überhaupt heiraten. Mehr möchten sich im Beruf und Karriere entwickeln. Für das Online-Dating bedeutet das einen enormen Wachstumsmarkt.
Zu Beginn des Jahres 2016 eröffnete Tinder sein erstes Übersee-Büro in Delhi. Der Leiter der Vertretung dort wurde die junge und attraktive Harvard-Absolventin Taru Kapoor.
"Wir sind sehr begeistert, wie schnell sich Tinder in Indien entwickelt hat. Insbesondere bei den Frauen ist Tinder sehr beliebt. Sie versenden dort überproportional mehr "Likes", als das die Männer tun", so Kapoor.
„Ich kann mir keine Beziehung ohne WhatsApp oder Snapchat mehr vorstellen“, sagt eine 20-jährige Passantin, die exemplarisch für eine neu nachwachsende Dating-Generation in Indien steht. "Ich brach vor kurzem mit einem Kerl, mit dem ich mich drei Monate getroffen hatte. Er hatte kein Smartphone. Ich fühlte mich immer weit von ihm. Beziehungen aufbauen ohne WhatsApp ist einfach unmöglich."